Letzte Aktualisierung: 19.August 2007

Die Geschichte der
Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen


Die Gründung der Deutschen Reichsbahn
und das Ende der Staatseisenbahnen

Die Geschichte der Verreichlichung ist schon älter, als die relativ zügige Verreichlichung der Staatsbahnen in Ländereigentum nach Ende des Ersten Weltkrieges vermuten läßt und beginnt spätestens mit der Einführung einer Reichseisenbahn Elsaß=Lothringen.

Aufgrund der immer kritischeren Lage des deutschen Eisenbahnwesens im Laufe des Ersten Weltkrieges wurde die Idee der forcierten Gründung der Deutschen Reichsbahn durch Reichstagsabgeordnete aus dem Königreich Württemberg erneut aufgebracht. Als erstes überlegten die Regierungen der Königreiche Preussen und Württemberg ob es eine Möglichkeit gäbe, die Württembergischen Staatseisenbahnen zum "Beitritt zur preussisch - hessischen Eisenbahngemeinschaft" 1 zu bewegen, was weniger aus finanziellen als vielmehr allgemeinpolitischen Gründen scheiterte.

Die Staatsregierung des Großherzogtums Baden wiederum brachte mehrfach die Idee auf, "für eine Reihe von Dienstzweigen grössere Einheitlichkeit und Vereinfachungen durch freien Zusammenschluß der Eisenbahnverwaltungen zu gemeinsamen Gebilden herbeizuführen...Bereits im Januar 1917 war infolge der badischerseits in der Regierungskonferenz vom 18. Oktober 1916 (Punkt 7) gemachten Vorschläge unter Beteiligung auch der württembergischen Regierung, die von Anfang an dem Plane zugestimmt hatte, auf meine Veranlassung in eine Prüfung eingetreten, inwieweit im Verkehr der preussisch = hessischen Eisenbahngemeinschaft und der Reichseisenbahnen [von Elsaß-Lothringen; Anm. des Verfassers] mit den württembergischen und den badischen Eisenbahnverwaltungen grössere Einheitlichkeit, insbesondere in Bezug auf Bauart und Beschaffung der Eisenbahnfahrzeuge, auf allgemeine Verwaltungsangelegenheiten und Geschäftsregelungen, sowie auf das Personalwesen, herbeigeführt werden könne. Diese Erörterungen dehnten sich mit ihrem weiteren Verlaufe auch auf andere Dienstzweige aus und hatten ein so günstiges Ergebnis, dass es nach Meinung der beteiligten Verwaltungen nunmehr angezeigt erscheint, vor dem Abschluss einer auf die genannten Verwaltungen beschränkte Vereinbarung zunächst eine Prüfung anzuregen, ob nicht auf der gewonnenen Grundlage ein allgemeines Übereinkommen unter Beteiligung aller Bundesstaaten mit eigenem Eisenbahnbesitz aufgebaut werden könne." 2

In der Anlage zu diesem Schreiben ist zwar ausgeführt, daß "die Selbständigkeit und Verantwortlichkeit der einzelnen Staatseisenbahnverwaltungen" erhalten bliebe, jedoch heißt es im weiteren Verlaufe, "die Bundesleitung hat aus Vertretern aller beteiligten Verwaltungen zu bestehen. Den Vorsitz führt der Vertreter der preußischen Staatseisenbahnverwaltung."3 Vor allem der letzte Teil dieser Ausführungen war natürlich für einige Staaten nicht zumutbar, die Idee der Verreichlichung verlief erst einmal im Sande.

Nach Beendigung des Krieges und der Flucht des Reichstags von Berlin nach Weimar aufgrund des in Berlin tobenden Bürgerkrieges wurde in Weimar die "Verfassung des Deutschen Reichs" ausgearbeitet, die auch entsprechende Passagen zur Verreichlichung haben sollte. Jedoch noch vor Abschluß der Beratungen zur neuen Verfassung wurden auch schon teils heftige Diskussionen zum Thema Verreichlichung geführt.

Stellvertretend für andere Äußerungen ein Protokollauszug des Bayerischen Eisenbahnrates vom 31. März 1919, anläßlich dessen Sitzung der bayerische Staatsminister Fraundorfer sich zu einer selbständigen Bayerischen Staatseisenbahn bekannte: "In der letzten Sitzung des Landeseisenbahnrates hatte ich Gelegenheit mich über die Frage der Überführung der bayerischen Staatseisenbahnen in die Reichsverwaltung zu äußern. Ich habe schon damals den Standpunkt eingenommen, daß Bayern aus allgemein=politischen Erwägungen allen Anlaß habe, an der Selbstbewirtschaftung und Selbstverwaltung seiner Eisenbahnen festzuhalten, unbeschadet der Prüfung der Frage, inwieweit eine weitere Vereinheitlichung des Eisenbahnwesens im Interesse des Gemeinwesens Platz zu greifen hätte. Es wäre erwünscht, daß auf dem Wege der Vereinheitlichung noch fortgefahren wird...Auf Anregung des Ausschusses des Landtags für auswärtige Angelegenheiten hatten wir letzten Samstag eine Besprechung mit Vertretern der württembergischen, badischen und hessischen Regierung. Ich bin mit dem Eindruck fortgegangen, daß in Württemberg und Baden der Reichseisenbahngedanke sich so gefestigt hat, daß an ein Zusammengehen mit Bayern nicht zu denken ist. Wir werden daher allein zu kämpfen haben. Auch Sachsen ist dem Reichseisenbahngedanken zugeneigt, ebenso Mecklenburg und Oldenburg." 4

Der Abgeordnete Rothmeier (Bayerische Volkspartei - BVP) hatte bereits am 02. April 1919 zusammen mit seinem Parteikollegen Dauer und weiteren Abgeordneten dem Landtag einen Antrag unterbreitet: "Die Staaatsregierung sei zu ersuchen, mit allen Mitteln dafür einzutreten, dass die Selbständigkeit der bayerischen Verkehrsanstalten durch die neue deutsche Staatsverfassung nicht beeinträchtigt wird." 5

Um die Wogen in Bayern zu glätten, besuchte der Reichsverkehrsminister Dr.Bell am 02. Oktober 1919 nach München, um die Sichtweise der Reichsregierung darzustellen und sich die Bedenken seitens der bayerischen Staatsregierung anzuhören; hierzu traf er sich mit seinem bayerischen Amtskollegen. In der anschließenden Pressekonferenz äußerte sich Dr.Bell, daß er "und das Reichsministerium, vom Zeitpunkt der Verreichlichung der Eisenbahnen, also vom 01. April 1921 ab, eine Oberste Zentralbehörde für Bayern mit dem Sitz in München zu errichten. Diese Oberste Zentralbehörde soll an ihrer Spitze einen Bayern haben und in der Hauptsache aus Landeskindern zusammengesetzt sein, sie soll die oberste Instanz für die ihr unterstellten Angelegenheiten sein, so dass hierfür das Reichsverkehrsministerium als letzte Instanz ausscheidet. Das Zuständigkeitsgebiet dieser für Bayern zu schaffenden obersten Zentralbehörde der Eisenbahnverwaltung in München soll demnächst näher umschrieben und abgegrenzt werden." 6 Diese Aussage darf sicherlich als Keimzelle der später entstandenen "Gruppenverwaltung Bayern" gelten, die später bei der Deutschen Reichsbahn einzigartig war.

Die Befürchtungen, die sich in Bayern breit machten waren vielschichtig: Die Übernahme des preussischen (schmalspurigen) Kleinbahnsystems wurde befürchtet, hingegen die Aufgabe des Systems der bayerischen normalspurigen Lokalbahnen: "Wir haben in Bayern die leistungsfähigen Körperschaften nicht, die solche Bahnen bauen und betreiben könnten, auch wenn der Staat Bauzuschüsse leisten sollte. Das neue System bringt uns also nicht bloss zurück, sondern bedeutet für uns geradezu einen Stillstand." 7

In zahlreichen Sitzungen des Bayrischen Landtages wurde gestritten, ob Bayern auf "seine" Staatseisenbahn verzichten solle, die Staatsregierung verwies jedoch hierbei immer wieder auf die verabschiedete Reichsverfassung, die diesen Schritt vorgab. Diese Aussage hinderte zahlreiche Abgeordnete nicht daran, immer wieder Petitionen an die Staatsregierung bzw. das Parlament zu richten, um Lokalbahnen in Auftrag zu geben - wohl auch, um die gerade entstehende Reichsbahn vor vollendete Tatsachen zu stellen, da die allgemeine Befürchtung war, daß eine zentralisierte Reichsbahn sich nicht mehr mit dem Ausbau des Streckennetzes befassen würde.

Argumente gegen eine Verreichlichung waren zahlreicher Natur: Da der Bau der Lokalbahnen durch die Aufbringung der Grunderwerbungskosten seitens der beteiligten Gemeinden eine starke Belastung für diese bedeutete, kam sofort die Frage nach Kompensation auf: "Der Antragsteller wies besonders darauf hin, daß noch eine große Restschuldenlast [betreffend die Lokalbahn Murnau - Weilheim, Anm. des Verfassers] vorhanden sei, unter der die beteiligten Kreise heute noch litten. Gegenwärtig betrage die Restschuld noch 154,600 M. Verschiedene Privatgaranten seien unter der damals übernommenen Last finanziell zugrunde gegangen. Ihre Verpflichtungen seien auf die Gemeinden und besonders auf Murnau übergegangen. Der jährliche Aufwand an Verzinsung und Tilgung der Eisenbahnschuld bis 1942 betrage 10,215 M. Angesichts der bevorstehenden Verreichlichung sollte die angegebene Restschuld zur Liquidationsmasse geschlagen werden." 8

Auch wurde diskutiert, ob nur die Verreichlichung der Staatseisenbahn erfolgen solle oder ob nicht auch die Verreichlichung der Privatbahnen erfolgen müsse, wie ein Antrag der Abgeordneten Rothmeier, Daner, Eichner und Genossen (alle BVP) aussagte: "Die bayerische Staatsregierung sei zu ersuchen, durch Verhandlungen mit dem Reiche zu veranlassen, daß beim Zeitpunkte der Übernahme der bayerischen Staatseisenbahnen auch die dem öffentlichen Verkehre dienenden bayerischen Privatbahnen und Privatlokalbahnen vom Reiche übernommen werden." 9

Ferner wurde Antrag gestellt, die Lokalbahn Röthenbach - Weiler staatlicherseits zu übernehmen, um diese dann wieder gegen Entschädigung an das Deutsche Reich abzutreten. 10

Auch wurde bezweifelt, daß die Zusage, daß bayerische Beamte in höchste Ämter bei der Reichsbahn aufsteigen könnten, zutreffend sei: "Wir wissen, daß Sachsen beispielsweise eine eigene Post nicht mehr gehabt hat und daß, als man die sächsische Post 'verreichlicht' hat, man Sachsen versprochen hat, daß sächsisches Personal bis zu den höchsten Spitzen verwendet werde. Die Tatsache ist aber zu verzeichnen, daß die Oberpostdirektion Sachsens bis zur Tätigkeit von Podbielski [26.02.1844 - 21.01.1916; Staatssekretär des Reichspostamts vom Juli 1897 - Mai 1901, Anm. d. Verfassers] niemals einen sächsischen Oberpostdirektor gehabt hat. Es war immer ein Preuße und ich fürchte, trotz der Bestimmungen der Reichsverfassung, daß die Landsmannschaften möglichst berücksichtigt werden - es steht noch eine andere Bestimmung daneben, die die erstere wieder völlig aufhebt - , ich befürchte, daß wir auch in Bayern keinen bayerischen Eisenbahndirektor oder bayerischen Eisenbahnpräsidenten in der Zukunft mehr sehen werden, wenn die Dinge so gemacht werden, wie es den Berlinern vorschwebt. Das liegt nicht in unserem Interesse." 11

Es wird sogar als für den Freistaat lebensnotwendig betrachtet, die Hoheit über sämtliche Verkehrswege zu behalten: "Zusammenfassend darf ich wiederholen: wir verlangen eine eigene Zentralstelle in der Zusammenfassung der bayerischen Interessen und territorialen Begrenzung auf das jetzige Bayern, wir lehnen ab eine Zerschlagung Bayerns in einzelne Verkehrsgruppen und wir verlangen weiter eine Zentralstelle, die die genügenden Zuständigkeiten hat, um überhaupt so zu wirken, wie es lebenswichtige Interessen Bayerns verlangen. Wir hoffen, daß die Herren, die vom Reiche aus berufen sind zu verhandeln, nicht eine Gewaltpolitik gegen uns treiben. Das wäre das Törichste, was man in der gegenwärtigen Zeit einem einzelnen Staate gegenüber unternehmen könnte. {Sehr richtig! bei der Bayerischen Volkspartei.}" 12

Am darauffolgenden Tag, dem 30. Januar 1920, wurden im Landtag 25 Anträge über die Errichtung bzw. Erweiterung von Lokalbahnen im gesamten Königreich verhandelt. Staatsminister von Frauendorfer führte hierzu aus: "Meine Damen und Herren! Vor etwa vier Jahrzehnten hat Bayern seine Lokalbahnpolitik eingeleitet. Landtag und Regierung haben zusammengewirkt, um das Land mit einem neuen, nun weitausgedehnten Netze von Lokalbahnen auszustatten. Diese Lokalbahnpolitik ist bis in die letzte Zeit fortgesetzt worden. ... Ich glaube, nirgends einem Widerspruche zu begegnen, wenn ich sage, daß unsere Lokalbahnpolitik das Land nicht nur nicht in den Ruin stürzte, sondern Bayern zum wahren Segen gereichte. ... Die Staatsregierung beabsichtigt, noch vor dem 1. April dieses Jahres, dem voraussichtlichen Zeitpunkt der Eisenbahn=Verreichlichung, dem Landtage eine Vorlage über den Bau neuer Lokalbahnen zugehen zu lassen, allerdings nicht zu dem Zwecke, um vom Landtage die Mittel für die Ausführung zu fordern, sondern um die Gelegenheit zu geben, sich noch vor der Verreichlichung über die zunächst als bauwürdig zu erachtenden Bahnlinien auszusprechen. An der Hand dieser Vorlagen wird die Regierung sich dann wegen der Erbauung dieser Bahnen an das Reich wenden. ... Hier kommt in Betracht auf der einen Seite, daß der bayerische Lokalbahnbau noch nicht als abgeschlossen gelten kann, daß seit den letzten Jahren vor dem Kriege Mittel für die Erweiterung des Bahnnetzes nicht mehr gefordert oder bewilligt wurden und daß noch zahlreiche Bestrebungen vorliegen, die mit Recht der Verwirklichung harren. Andererseits ist aber auch zu beachten die außerordentlich üble, um nicht zu sagen verhängnisvolle finanzielle Lage von Staat und Reich, besonders im Eisenbahnwesen. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich Ihnen mitteile, daß die preußischen Eisenbahnen für das Jahr 1919 mit einem Defizit von 6 Milliarden Mark und die bayerischen Eisenbahnen mit einem Defizit von gegen 600 Millionen Mark abschließen.13

"... , Lokalbahnprojekte, die schon vor dem Kriege der Verwirklichung nahe waren und nur wegen besonderer Umstände nicht zur Verwirklichung kommen konnten, sollen - im allgemeinen gesprochen - den Vorrang haben, sofern die Voraussetzungen vollkommen geklärt sind. Im Übrigen sollen jene Linien bevorzugt werden, bei denen die Gewähr besteht, daß durch den Bahnbau die Hebung von Bodenschätzen ermöglicht wird. Auch die Verbesserung der Lebensmittelversorgung von Großstädten, die auf noch längere Zeit unsere schwere Sorge sein wird, kann unter Umständen ein Moment sein, das bei der Beurteilung der Bauwürdigkeit einer Bahn ins Gewicht fällt. Schließlich werden auch politische Gesichtspunkte da und dort nicht ganz außer Betracht bleiben dürfen. Ich erinnere an die Verhandlungen mit Coburg, an die besonders zu beurteilenden Verhältnisse der Pfalz." 14

Nicht zu vergessen ist, daß durch Volksabstimmung im Jahre 1919 im ehemaligen Herzogtum Sachsen-Coburg und seit November 1918 Freistaat Coburg mit einer deutlichen Mehrheit von 88% der abgegebenen Stimmen beschlossen wurde, sich nicht dem Land Thüringen, sondern dem Freistaat Bayern anzugliedern (erfolgt am 01. Januar 1920) und die bayerische Pfalz war durch alliierte Truppen besetzt (noch bis 1930).

Der Abgeordnete Karl Rothmeier (Bayerische Volkspartei - BVP) veröffentlichte im Januar 1920 einen Essay über die "Zentralisation oder Dezentralisation der Deutschen Eisenbahnen" in der er viele Zitate über das Für und Wider einer Verreichlichung aus den zurückliegenden Jahren zusammenfasste. Er beklagt hier vor allem den drohenden wirtschaftlichen Niedergang Bayerns, sollte es zur Verreichlichung kommen, aber auch den Bestand Bayerns als selbständigen Staat: "Das bayerische Wirtschaftsgebiet ist zu gross, um in einer Direktion zusammengefasst zu werden. Die bayerischen Direktionen sollen nun einzeln dem Reichsverkehrsministerium angeschlossen werden. Das bedeutet im Zusammenhange mit anderen Massnahmen den Zerfall Bayerns und die praktische Verwirklichung des Einheitsstaates in seiner extremsten Form... Bayern würde neuerdings in einer unerhörten und alle Rücksichten verhöhnenden Form vergewaltigt werden." 15

Rothmeier scheut sich auch nicht, in eindeutiger Form die (bayerische) nationale Karte zu spielen: "... Das bayerische Eisenbahnpersonal denkt und fühlt bayerisch wie das Volk. Es ist im Grund seines Herzens dem norddeutschen Wesen abgeneigt und hat keine Lust, die demokratische Freiheit, die es unter der bayerischen Verwaltung geniesst gegen den preussischen Zwang umzutauschen..." 16

Auch die Gefahr der Abspaltung der Pfalz von Bayern sieht Rothmeier: "Der Zusammenschluß des rechts= und linksrheinischen Eisenbahnnetzes in eine Einheit ist aus politischen Gründen unvermeidlich. Die Abtrennung des pfälzischen Eisenbahnnetzes würde den Zusammenhang und den Zusammenhalt der beiden Gebiete schwer gefährden... Die Schaffung einer süddeutschen Gruppe mit der Leitung in München wäre die beste Sicherung der Pfälzer Interessen in wirtschaftlicher und politischer Richtung. Der Anschluß der Pfalz an eine andere Eisenbahnverwaltung würde die Beziehungen vom rechts= zum linksrheinischen Bayern umgekehrt lockern. Es bestünde die Gefahr, dass die Pfalz für Bayern verloren ginge... Manche behaupten: wenn die Pfalz vo Bayern abgetrennt wird, so ist sie für Deutschland verloren." 17 Mit dieser Äußerung weist Rothmeier auf die Bestrebungen gewisser politischer Kreise hin, die - mit französischer Unterstützung - eine Separation von Teilen des Deutschen Reiches und ggf. eine Anbindung an Frankreich erstreiten wollten.

Kritik wurde also nicht nur an der Tatsache geäußert, einen Staatsbetrieb zu verlieren, sondern vielmehr eine bayerische Institution, und damit auch die Identität des eigenen Staatsgebildes preiszugeben oder zumindest zu schmälern, aber auch der Verlust von Staatsvermögen zu für den Einzelnen nicht immer nachvollziehbaren Bedingungen. So lautet der Text über den Vertragsgegenstand im Entwurf des Staatsvertrages vom Februar 1920:

Vertragsgegenstand. Rechtsnachfolge.

§ 1.

     1. Die Staatseisenbahnen der vertragschließenden Länder (im folgenden "Länder" genannt) gehen am 1. April 1920 in das Eigentum des Reiches über.
     2. Das Reich übernimmt das Eisenbahn=Unternehmen jedes Landes als Ganzes mit allem Zubehör und allen damit verbundenen Rechten und Pflichten. Der Eintritt des Reiches in die laufenden Verträge hat Rechtswirkung auch gegenüber den bisherigen Vertragsgegnern der Länder.
     3. Mit den Eisenbahnen gehen auch ihre Nebenbetriebe, soweit sie nicht schon als Zubehör anzusehen sind, insbesondere der Fähren, die Bodenseedampfschiffahrt, die Häfen und die Kraftwagenbetriebe auf das Reich über. Den Regierungen der Länder bleibt vorbehalten, einzelne solcher Nebenbetriebe von dem Übergang auf das Reich auszuschließen.
18

Die Bedingungen für die zu leistende Abfindung lauteten:

Abfindung.

§ 3.

     1. Die Abfindung für die Übertragung des gesamten Eisenbahnunternehmens gewährt das Reich den Ländern nach Wahl jedes Landes entweder
          a) den Betrag des Anlagekapitals nach dem Stande vom 31. März 1920 oder
          b) den Betrag des Anlagekapitals nach dem Stande vom 31. März 1920 erhöht um die Hälfte des Betrages, um den der nach den Ergebnissen der Rechnungsjahre 1909 - 1913 ermittelte Ertragswert dieses Anlagekapital übersteigt sowie
          c) in beiden Fällen Ersatz der Fehlbeträge, die bei den Eisenbahnverwaltungen der Länder in der Zeit vom Beginn des Rechnungsjahres 1914 bis zum 31. März 1920 entstanden sind, abzüglich der Ausgaben, die auf Grund besonderer gesetzlicher Vorschrift den Ländern vom Reiche erstattet werden.
     2. Das Anlagekapital und der Ertragswert sind nach den in der Beilage dargelegten Grundsätzen zu berechnen.
     3. Als Fehlbeträge gelten die Beträge, um die im einzelnen Rechnungsjahre die Betriebsausgaben und der Anteil der Eisenbahnverwaltung an den Aufwendungen für Verzinsung, Tilgung und Verwaltung der Staatsschulden die Betriebseinnahmen überstiegen haben. Ausgaben, die dem Anlagekapital zugerechnet werden, sind aus den Betriebsausgaben auszuscheiden. 
19

Zwar beinhaltet der Vertragsentwurf Passagen über die Fortführung des Ausbaus des Eisenbahnnetzes in den Ländern, jedoch galten die Ausführungen als durch die Länder nicht durchsetzbar, da die Entscheidung hierüber letztendlich in der Verantwortung der Deutschen Reichsbahn liegen sollte.

Begonnene Bauten.

§ 17.

     1. Das Reich ist verpflichtet, die von den Ländern begonnenen Bauten fortzuführen, soweit das Bedürfnis in unveränderter Weise fortbesteht und nicht Rücksichten auf die wirtschaftliche Lage der Reichseisenbahnen entgegenstehen. Entstehen hierüber Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertragsschließenden, so entscheidet auf Antrag der Staatsgerichtshof.
     2. Die beim Übergang der Bahnen auf das Reich durch den Haushalt oder durch Gesetze der Länder bewilligten Mittel gelten als vom Reiche bewilligt.

Neue Bauten.

§ 18.

     Das Reich wird den Bau neuer, dem allgemeinen Verkehr dienenden Bahnen, den Bau zweiter und weiterer Gleise sowie den Um= und Ausbau der bestehenden Anlagen nach Maßgabe der Verkehrs= und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Länder und der verfügbaren Mittel ausführen.

...

Unterstützung des Baues von Kleinbahnen.

§ 20.

Das Reich wird den Bau von Eisenbahnen, die nicht dem allgemeinen Verkehr dienen (Kleinbahnen und Bahnen, die den Kleinbahnen gleichzuachten sind), dem Umfang entsprechend unterstützen, in dem bisher die Kleinbahnen in Preußen unterstützt worden sind. Die Unterstützung ist davon abhängig, daß die Länder für das Unternehmen mindestens den gleichen Staatsbeitrag zur Verfügung stellen wie das Reich. Für Straßenbahnen und straßenbahnähnliche Unternehmungen gilt diese Bestimmung nicht.

...

Schlußprotokoll.

...

Zu § 18.

     Das Reich wird bei der Auswahl der Nebenbahnlinien im Rahmen der allgemeinen Nebenbahnpolitik auf die bisherigen Absichten der Länder möglichst Rücksicht nehmen. Diese Bestimmungen gelten auch für Kraftfahrlinien.

...

Zu § 24.

b) Grundsätze für die Übergangszeit.

...

     IV Die vom Reichsverkehrsministerium hiernach zu übernehmenden Geschäfte werden bis zur tatsächlichen Überleitung von folgenden Stellen weiterbehandelt:

...

     b) Für den Bereich der bayerischen Staatseisenbahnen von den für Eisenbahnangelegenheiten zuständigen Teilen des bayerischen Verkehrsninisteriums unter der Bezeichnung "Reichsverkehrsministerium, Zweigstelle Bayern"..

Zu § 37.

     ...Die Mitglieder der Direktionen müssen in der Regel Landesangehörige sein. Ihr Vorstand soll ein Landesangehöriger sein. Die Vorstände der höheren Reichseisenbahnbehörden sollen im Einvernehmen mit der Landesregierung oder der von ihr bestimmten Stelle ernannt werden..
20

Da die Ausführungen des Staatsvertragsentwurfes den bayerischen Abgeordneten nicht eindeutig genug waren, wurde von Staatsminister von Frauendorfer eine "Denkschrift über den Ausbau des bayerischen Bahnnetzes" erstellt und dem Landtage am 27. März 2007 zur Beratung und Verabschiedung vorgelegt. Inhalt dieser Denkschrift waren die "Bahnlinien, deren Bauwürdigkeit die bayerische Staatsregierung anerkannt und für deren baldige Erbauung ein dringliches Bedürfnis gegeben ist" - in Summe 50 Lokalbahnlinien in der Pfalz und den rechtsrheinischen Regierungsbezirken. 21 + 22

Am Ende einer turbulenten Sitzung des Bayerischen Landtages am 30. März 1920 - welche um 09:11Uhr morgens begann und nach dem Stenographischen Bericht bis 09:15Uhr abends dauerte - wurde dem Staatsvertrag des Deutschen Reiches mit den Ländern zugestimmt. Das zur Abstimmung stehende

"Gesetz über den Übergang der bayerischen Staatseisenbahnen auf das Reich"

besaß nur einen Artikel:

"Der Staatsvertrag wegen Übergangs der einzelstaatlichen Eisenbahnen auf das Reich und das Schlußprotokoll hierzu werden genehmigt." 23

Als Ergänzung zu diesem Gesetz beschloß der Landtag noch eine Aufforderung an die Staatsregierung des Freistaates Bayern, welche 19 Punkte umfaßte und u.a. den Ausbau des bayerischen Eisenbahnnetzes forderte sowie den Erhalt und Ausbau des bayerischen Eisenbahnmuseums in Nürnberg. 24

Die Verkündung des Wortlautes des Staatsvertrages und des Schlußprotokolles erfolgte am 04. Mai 1920 im Reichsgesetzblatt Nr.95 des Jahrgangs 1920. 25

Somit wurde ein herausragendes Kapitel bayerischer Wirtschafts- und Verkehrsgeschichte endgültig geschlossen.


Quellen: 1 Schreiben S IV.46.115.175 des Königlich preußischen Ministers der öffentlichen Arbeiten vom 09. Juni 1918; Bayerisches Hauptstaatsarchiv in München; Signatur: MA 103936
                2 ebendort
                3 Anlage zu Schreiben S IV.46.115.175 des Königlich preußischen Ministers der öffentlichen Arbeiten vom 09. Juni 1918; Bayerisches Hauptstaatsarchiv in München; Signatur: MA 103936
                4 "Niederschrift über die Verhandlungen des Bayerischen Eisenbahnrates" vom 31. März 1919; Bayerisches Hauptstaatsarchiv in München; Signatur: MA 103936
                5 Karl Rothmeier, Mitglied des Bayerischen Landtages: "Zentralisation oder Dezentralisation der Deutschen Eisenbahnen?" vom Januar 1920, Seite 4; Bayerisches Hauptstaatsarchiv in München; Signatur: MA 103936
                6 Artikel aus dem "Bayerischer Kurier & Münchener Fremdenblatt" Nr.277 vom 03. Oktober 1919; Bayerisches Hauptstaatsarchiv in München; Signatur: MA 103936
               
7 Brief des 2. Präsidenten des Bayerischen Landtags und Abgeordneten des Bayerischen Bauernbundes Anton Städele an das bayerische Staatsministerium für Verkehrsangelegenheiten mit Kopien an das Landwirtschaftsministerium und das Ministerium des Äussern vom 11. November 1919; Bayerisches Hauptstaatsarchiv in München; Signatur: MA 103936
                8 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Bayerischen Landtags. Vierunddreißigste Sitzung. Donnerstag, den 29. Januar 1920.
                9 ebendort
              10 ebendort
              11 ebendort
              12 ebendort
              13 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Bayerischen Landtags. Fünfunddreißigste Sitzung. Freitag, den 30. Januar 1920.
              14 ebendort
              15 Karl Rothmeier, Mitglied des Bayerischen Landtages: "Zentralisation oder Dezentralisation der Deutschen Eisenbahnen?" vom Januar 1920, Seiten 10 und 11; Bayerisches Hauptstaatsarchiv in München; Signatur: MA 103936
              16 ebendort, Seite 41
              17 ebendort, Seite 55 und 56
              18 Beilage 1113 vom 29.02.1920 zu den Tagungen des Bayerischen Landtages in der Sitzungsperiode 1919/20
              19 ebendort
              20 ebendort
              21 Beilage 1207 vom 17.03.1920 zu den Tagungen des Bayerischen Landtages in der Sitzungsperiode 1919/20
              22 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Bayerischen Landtags. Sechsundfünfzigste Sitzung. Samstag, den 27. März 1920.
              23 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Bayerischen Landtags. Achtundfünfzigste Sitzung. Dienstag, den 30. März 1920.
              24 ebendort
              25 Reichs=Gesetzblatt, Jahrgang 1920, Nr.95 vom 04. Mai 1920

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